Gegen 17.00 Uhr treffen wir im Städtchen Licodia-Eubea (auf rund 500 m.M.) ein. In einem B+B auf der Piazza Garibaldi haben wir unsere heutige Unterkunft. Wir stellen unser Auto auf einem Parkfeld am Strassenrand ab, steigen aus und gehen auf das Haus Nr. 8 zu als von der gegenüberliegenden Strassenseite jemand „Martin, Martin“ ruft und Carmelo, unser B+B-Gastgeber über die Strasse geeilt kommt. Es folgt eine herzliche Begrüssung. Sofort will er wissen, was uns nach Licodia bringt. Wir erzählen ihm, dass mein Götti Salvatore im Jahr 1928 hier geboren worden ist und die Stadt im 1954 für immer verlassen hat – ohne bis heute je wieder einmal zurück gekehrt zu sein. Ihm sagt der Familienname Spingardi nichts aber er wird es nicht darauf beruhen lassen. Nun geht es aber zuerst ins Haus, wo wir das Dachzimmer mit einer wunderschönen Aussicht auf die weite hügelige Landschaft beziehen. Doch bevor wir unser Gepäck ausladen können, schlägt Carmelo vor, mit uns eine kleine „Stadtrundfahrt“ zu machen. Ich betrete gerade wieder die Piazza Garibaldi als ein schriller Pfiff ertönt. Eine Polizistin steht neben unserem Auto und pfeift die halbe Stadt zusammen, weil wir kein Parkticket gelöst haben. „Questa è la nostra macchina“ gestehe ich als ich auf sie zugehe. „Aha, la vostra macchina …“ quittiert sie prompt. Aber bevor wir die Konversation weiterführen können, kommt Carmelo herbei geeilt, der die Angelegenheit mit zwei, drei Sätzen klärt und die Frau Polizistin fragt, ob ihr der Name „Salvatore Spingardi“ etwas sage und sie dann auch gleich über die Gesamt-Ausgangslage, die zu unserem Licodia-Besuch geführt hat, informiert. Es ist dies das erste Mal aber nicht das letzte Mal, dass er „unsere Geschichte“ wiedergibt. Wir zeigen den beiden die Foto, die uns Salvatore von seinem Geburtshaus mitgegeben hat und sofort versuchen die beiden herauszufinden, wo sich das abgebildete Gebäude befindet. Zu unserer kleinen Gruppe stösst eine zweite Polizistin dazu und erfährt die „Geschichte“ um uns Svizzeri. Auch ihr sagt der Name „Spingardi“ nichts. Wir verabschieden uns in freundschaftlicher Art (mit festem Händedruck) von den Polizistinnen und Carmelo bestätigt ihnen, dass wir sofort ein Parkticket lösen werden. Dies tun wir.
Mittlerweile hat es zu regnen begonnen. Grosse Tropfen prasseln auf die Piazza. Wir fahren durch den Corso Umberto I, sehen das Haus mit Ladenlokal, in dem die Eltern von Salvatore vor 1950 ein Negozio geführt haben, zur Piazza degli Capuccini. An diesem Platz befindet sich eine Ricotteria, die uns Carmelo als erstes zeigen will. Gerade als wir eintreten, spricht Martin Carmelo darauf an, ob er Patacò kenne. Aber natürlich kennt Carmelo Patacò und dieses Patacò-Mehl könne man übrigens gerade hier in der Ricotteria käuflich erwerben. Und mit dem ausgesprochenen Wort „Patacò“ öffnen sich für uns hier die letzten Türen. Wir sind keine Fremden mehr, sondern Vertraute, die Kenntnis haben vom „sagenumwobenen“ Patacò. Was nun aber ist Patacò? Bis am Samstag, 18.06.2016 kannte ich „Patacò“ auch nicht. Salvatore hat uns bei einem Nachtessen darum gebeten, ihm 1-2 Kilo Patacò mitzubringen. Patacò ist ein Mehl aus der Platterbse. Das Mehl wird mit Wasser und Olivenöl angerührt und dann – so vorhanden – mit Broccoli und Salsiz ergänzt. In der kompletten Version wird es wie eine Art Polenta gegessen. Einfach nur angerührt, kann Patacò auch frittiert werden. Patacò ist eine echte Licodia-Spezialität. Beim Besuch der Ricotteria machen wir gleich für den nächsten Tag um 10.00 Uhr einen Termin für ein Ricotta z’Morge und den Kauf von zwei Kilo Patacò aus.
Wir fahren im strömenden Regen weiter durchs Städtli in die Via del Popolo, wo Carmelo das Geburtshaus von Salvatore vermutet. Wir schauen uns das Haus an, das effektiv verblüffende Ähnlichkeit zum abgebildeten Haus hat. Salvatore hat uns aber gesagt, dass das Haus in der Via San Martino gestanden habe. Wir werden der Angelegenheit am nächsten Tag nachgehen. Auf der Weiterfahrt kommen wir beim Restaurant „A Carreteria“ vorbei, wo eine Frau – wie sich herausstellt die Restaurant-Besitzerin – vor dem Haus steht, so dass Carmelo bei ihr eine Tischreservation inkl. Spezialitäten-Menü-Bestellung per gli Svizzeri aufgeben kann. Mittlerweile regnet es nicht mehr. Wir setzen unsere Fahrt fort und besuchen die Ruinen des Castello Santapau, von wo aus man einen herrlichen Blick auf die Stadt hat. Vom Castello gibt es nicht mehr viel zu sehen aber schön ist es trotzdem. Weiter geht’s über Stock und Stein zu einem Punkt, von wo aus Mann den türkisblauen Lago Dirillo sehen kann. Ein künstlicher See, der für die Instrustrie-Stromproduktion genutzt. Baden kann man darin aus algentechnischen Gründen nicht. Gekonnt handlet Carmelo auch die Sache mit den beiden wilden Eseln, die das Territorium des Aussichtspunkts für sich beanspruchen.
Wir fahren wieder in die Stadt und Carmelo zeigt uns noch ein zweites Haus, das er aktuell umbaut, um die Wohnungen für B+B-Zwecke zu nutzen. Mittlerweile giesst es wieder wie aus Kübeln. In der Ferienwohnung sucht Carmelo nach einer Broschüre über Licodia, die er uns für Salvatore mitgeben möchte. Er findet diese aber nicht. Bei unserem kurzen Aufenthalt in „unserem“ B+B-Zimmer auf der Piazza Garibaldi haben wir aber ein Buch über Licodia gesehen. Und klar kann sich Carmelo vorstellen, dass auch dieses für Salvatore sehr interessant wäre und so sucht er in seinem Handy kurz nach der Nummer des Autors des Buches, Nunzio Li Rosi, ruft diesen an, erzählt ihm unsere Geschichte und fragt ihn ob er noch una coppia eben dieses Buches habe (was er natürlich noch hat) und vereinbart eine sofortige Buchübergabe auf der Piazza Garibaldi. Vorab aber noch kurz ein Abstecher zum Mugnos-Palast (leider auch nicht mehr so gut im Schuss) und dann geht’s im strömenden Regen (all die jüngeren und älteren Herren, die bei unser Ankunft noch vor den beiden Bars bzw. auf den Bänkli vor dem Municipio gesessen und das Dorfleben beobachtet haben, haben sich in der Zwischenzeit ins Trockene zurückgezogen bzw. sind nach Hause zu Mamma gegangen) zurück zur Piazza Garibaldi, wo bereits der „alt“ Sindaco und sein Sohn im Auto auf uns warten. Carmelo holt bei ihnen unter dem geöffneten Kofferraum-Deckel ein Exemplar des Buches „Per Licodia Eubea – Una vita da Amministratore“ (358 Seiten, 2011) ab, das er uns anschliessend mit grosser Freude überreicht. Es versteht sich von selbst, dass es für ihn nicht in Frage kommt, dass wir das Buch selbst zahlen.
Wir verabschieden uns von Carmelo, der ein echter Gastgeber und ein überzeugter Licodiani ist.
Wir beziehen kurz unser Zimmer und müssen uns dann bereits auf den Weg zum Restaurant machen. Wir finden das Lokal in den Strässchen und Gässchen von Licodia auf Anhieb wieder. Man heisst uns herzlich willkommen. Im noch komplett leeren Lokal hat man für uns einen Tisch reserviert. Nicht irgendeinen Tisch – nein, den besten Tisch. Will heissen: Den Tisch mit der besten Sicht auf den Fernseher – die Fernbedienung des Gerätes liegt übrigens auch schon auf dem gedeckten Tisch.
Ein spontanes Lachen können wir uns nicht verklemmen, schätzen aber die herzliche Gastfreundschaft, die uns an diesem Abend zuteil wird und erachten diese nicht als selbstverständlich. Was dann folgt, ist ein echtes Festival dei Sapori (Aussage von Martin):
- Vino: ein leichter, wunderbar schmeckender roter Hauswein – fast traubensaftmässig
- Aperitivo 1: Tappanade von schwarzen und grünen Oliven mit Pizzabrot
- Aperitivo 2: Frittierter Patacò, Salami-Wurst mit Pistazien drin, gebratener Speck, Käse, Oliven und Artischocken-Herzen und eingelegte Auberginen
- Aperitivo 3: Patacò (Polenta-ähnlich zubereitet) mit Broccoli und Salsiz
- Primo: Maccheroni alla Norma (mit Gemüse-Sauce)
- Secondo: Gebratene Wurst (ebenfalls eine Licodia-Spezialität und extra noch von Carmelo beim Wirt auf unserer kurzen Rundfahrt nachbestellt) und Pepperonata
- Dolci: Gott sei Dank kein Tiramisù, sondern einfach eine Früchteauswahl
- Zu den Espressi gibt es noch – vom Hause offeriert – einen Canello-Schnapps.
Wir bezahlen, verabschieden uns und rügelen in aufgeräumter Stimmung gemütlich hinunter zur Piazza Garibaldi, wo’s für mich nur noch eins gibt: Ins Bett legen und verdauen. Aber es war fein.