Brauche nur den Kopf nach rechts zu drehen und schon kann ich das liebliche Landschaftsbild geniessen. Auf den gegenüberliegenden Hügeln gibt es Olivenbäume, Felder und Äcker mit Schafen und Pferden drauf. Aus dem Hof eines näherliegenden Hauses kräht ein Hahn in regelmässigen Abständen. Es zirpt und verschiedene Vögel zwitschern und jubilieren munter drauf los. Kein nicht-natürlicher Lärm ist zu hören. Kurz vor acht stehe ich auf und gehe aufs Terrässli, das auf die Piazza Garibaldi hinaus geht. Gerade fährt der Früchte-Händler mit seinem Camion vor. Vor dem Municipio sitzt bereits ein einzelner Mann. Wahrscheinlich musste er früh raus, weil zu Hause der Freitagsputz ansteht und er im Weg war. Als Martin kurze Zeit später das Treiben auf der Piazza beobachtet, ist der Früchte-Händler weg dafür steht jetzt der Fisch-Händler auf dem Platz.
Wir machen uns reisefertig und gehen anschliessend in der Bar auf der gegenüberliegenden Strassenseite einen Cappuccino und ein Crossant essen. Mittlerweile befinden sich drei Männer vor dem Municipio, die i turisti im Auge behalten. Unmittelbar nach dem ersten echten colazione italiana gehen wir den Spuren von Salvatores Geschichte nach. Und Spuren der Geschichte Licodias finden sich überall. Auf dem Aushang der Todesanzeigen (so wie wir früher „z'Chäschtli“ mit den Zivilnachrichten gehabt haben) stossen wir auf mehrere Todesanzeigen von Personen, die wohl vor Jahren nach Melbourne ausgewandert und nun dort verstorben sind und deren Angehörige eine Erinnerungsmesse in einer der Kirchen in Licodia lesen lassen. Lebten im 1920 noch rund 9'000 Menschen in Licodia so sind es heute bloss noch etwa 3'000! Wir sehen uns das Haus an, in dem seine Eltern das Ladengeschäft (bis zum Tode seines Vaters Vincenzo) hatten und gehen weiter zur Kapuziner-Kirche. Wir betreten die Kirche, zünden je eine Kerze an und stellen fest, dass der Priester, der vor wenigen Minuten noch in den privaten Kleidern im Krichenraum stand, sich umgezogen hatte, um extra für uns eine Messe zu lesen. Kommt etwas überraschend für uns, da wir ja nun die Kirche nicht verlassen können und somit zu spät zum Ricotta-Rendezvous kommen. Als die Messe fertig ist – sie dauerte für meine Italienisch-Sprachkenntnisse sehr lange (habe wirklich nicht viel verstanden) – machen wir uns auf den Weg über die Strasse zur Ricotteria.
Dort bringt die Tochter gerade das Pane di Casa und wir erhalten dieses zusammen mit einer Schale warmem Ricotta, den der Käsermeister zusammen mit seiner Frau gerade am in kleine Kübel abfüllen ist. Der Ricotta schmeckt super, auch wenn wir in Anbetracht des Abendessens des Vortages noch recht satt sind. Von den Käsersleuten erfahren wir, dass es mittlerweile nur noch zwei Betriebe gibt, die Rocotta herstellen. Früher waren es rund 25 in der Region. Bevor wir weiterziehen, erwerben wir noch zwei Kilo Patacò. Diese sind bereits vorbereitet.
Anhand der Beschreibung von Salvatore versuchen wir nun, sein Geburtshaus zu finden. Am von ihm genannten Punkt befindet sich ein neueres Haus. Einer Frau in einem benachbarten Haus kommt unsere Besichtigungstour wohl etwas komisch vor. Wir erklären ihr was wir suchen und sie versucht sofort, uns weiterzuhelfen indem sie sich selbst bei einer älteren Frau erkundigt. Ich bringe den Namen von Margherita Galente ins Spiel (so wie ich verstanden habe Salvatores Cousine?). Grosses Aha und unverzüglich führt uns die Frau zum Haus von Margherita Galente.
Die ist zu Hause und freut sich – nach anfänglicher Skepsis – über unseren Besuch. Auch sie glaubt genau zu wissen, von welchem Licodia-Gebäude die Aufnahme von Salvatore stammt. Ein Herr stösst zu unserer Gruppe. Was die Fremden wohl wollen? Als auch er im Bild ist über unser Anliegen stellt er flux seine Tomaten, Pepperoni und die Melone auf ein Bänkli und führt uns zielstrebig zum neuen Haus, bei dem wir schon einmal waren. Auf sizilianisch erklärt er uns ausführlich wie es früher hier ausgesehen hat und wer, was und wie umgebaut hat. Er verabschiedet sich mit einem grossen Lachen, das sich noch verstärkt als Martin ihn daran erinnert, sein Gemüse auf dem Bänkli nicht zu vergessen. Mit Margherita Galente gibt es noch ein Erinnerungsfoto, dann verabschieden wir uns und gehen weiter. Bei einem kleinen Negozio wollen wir uns etwas zu trinken kaufen. Bevor wir eintreten können spricht uns eine alte Frau an und will von uns wissen, ob wir aus Australien seien. Wir wechseln ein paar Sätze miteinander, doch ihr sizilianisch-italienisch ist schwer zu verstehen. Die Erfrischung tut gut und Postkarten, nach denen wir uns ebenfalls erkundigen, gibt's offensichtlich keine mehr.
Vielleicht noch beim Tabacchaio, wird uns gesagt. Weiter geht's mit unserem Licodia-Spaziergang. Beim Tabacchaio treten wir kurz ein und fragen nach Postkarten. Die ältere Dame fragt spontan, ob wir Australier seien. Auch hier erklärt Martin von wo, warum und wieso wir in Licodia sind. Die Dame meint, dass sie keine Postkarten mehr verkaufe, dass es aber sein könnte, dass sie irgendwo noch ein paar alte Karten hätten. Ihr Mann sei jetzt aber kurz weggegangen. Ob wir wohl in einer Viertelstunde nochmals vorbeikommen könnten. Sie will uns unbedingt etwas schenken und kramt aus den Verkaufsdosen einige Täfeli, die sie uns gibt. So härzig. Klar, wir haben ja Zeit und wollen eigentlich noch die grosse Kirche anschauen. Die ist aber bereits Siesta-bedingt geschlossen. Wir sind gerade beim Dorfeingang angekommen und machen noch ein paar Föteli als das Polizei-Auto mit der einen der beiden Polizistinnen, die wir gestern getroffen haben, vorbei fährt. Man kennt sich: ein Lächeln und freundliches Zuwinken und weiter geht's. Wir machen uns auf den Weg zurück zum Tabacchaio als wir feststellen, dass wir den Patacò nicht mehr haben. Wo ist der Patacò? Bevor wir dieser Frage nachgehen können, gehen wir zum Tabacchaio, wo der Herr des Hauses eingetroffen ist und doch tatsächlich noch ein paar alte Postkarten gefunden hat, die er uns unbedingt schenken will. Und ja, er erinnert sich nun sehr gut an Salvatore. Sein Bruder war bloss drei Jahre jünger als Salvatore und offensichtlich ein Freund, der mit ihm auch in der Musik spielte. Für uns fast unfassbar, mit welchen Emotionen der Besuch in Licodia für uns aber auch für frühere Weggefährten von Salvatore verbunden ist. Wir bedanken und verabschieden uns in einer sehr herzlichen Art und Weise. Und dann geht's schnellen Schritts zurück zum Negozio. Dort – beim Besorgen der Getränke – haben wir unser Patacò stehen lassen, das bei unserer Ankunft kurz vor mittäglichem Geschäftsschluss immer noch dort steht. Wir kehren zum B+B zurück und packen unser Auto. Mit dem Auto geht es noch einmal zum Aussichtspunkt in der Nähe des Lago Dirillo zurück, um Fotos der Gesamtdorf-Sicht von Licodia zu machen bzw. später gehen wir noch kurz zum Familien-Friedhof.
Dann brechen wir auf und verlassen Licodia. Wir sind überwältigt wie warm und offen wir hier empfangen worden sind. Die positiven Gefühle wirken noch einige Zeit nach.
Im Navi ist Giardini Naxos eingegeben. Die Fahrt verläuft einwandfrei und gegen 18.00 Uhr treffen wir im Hilton ein und beziehen das Zimmer 6120 im sechsten Stock. Wir gehen noch etwas essen und lassen den Abend gemütlich ausklingen.