Um kurz nach neun bringt uns der Brocken-Dampfzug der Harz-Querbahn nach Steinerne Renne. Wir steigen aus und schauen uns etwas um.
Da holt uns zum ersten Mal am heutigen Tag die Geschichte ein. Auf dem Gelände des ehemaligen Granit- und Schotterwerks, das seit 1944 für den Bau von Flugzeugtriebwerks-Teilen genutzt wurde, entstand ein dem KZ Mittelbau-Dora unterstelltes Aussenlager, in dem französische, belgische und italienische Zwangsarbeiter und dann auch 500 Häftlinge aus dem KZ-Aussenkommando am Veckenstedter Weg in Wernigerode zum Einsatz kamen. Als wenn das nicht schon genug Leid gewesen wäre, wurden die Männer einen Tag vor der Besetzung des Lagers durch amerikanische Truppen am 10. April 1945 auf einen Todesmarsch nach Leitmeritz geschickt. 57 Männer überlebten die Tortour.
In Dankbarkeit und mit persönlicher Vorfreude nehmen wir den rund 16 km langen Weg auf den Brocken unter unsere Füsse. Die über 800 Meter Höhendifferenz werden wir hinkriegen.
Das Laufen durch die vielfältige Natur macht Freude. Der gemischte Laubbaum- und Tannenwald, die vielen Brombeer-Sträucher und die vielen Gräser-Arten spenden Schatten und erfreuen das Auge. Zwischendurch hört man das Dampfen und Stampfen eines Zuges, ohne diesen aber in der waldigen Umgebung optisch ausfindig machen zu können. Wir legen regelmässig kurze Pausen ein. Bei der Mittags-Rast – nach etwa 2/3 zurückgelegter Wegstrecke – treffen wir eine Frau, die aus Wernigerode kommt. Sie erzählt uns viel interessantes:
Der Wald im Harz wird immer kleiner. Rund zwei Drittel der Fichten in der Region sind bereits abgestorben, was landschaftlich ein klägliches Bild abgibt. Gründe dafür sind meist der Klimawandel und der Borkenkäfer. Mit grossen Aufforstungs-Aktionen will man dagegenwirken aber das Wiederaufforsten geht nur langsam voran.
Zu erwähnen ist die grosse Blumenvielfalt, die sich uns hier bietet: Fingerhut, Johanniskraut, verschiedene Distelarten, blaue Glockenblumen etc und die wieder zahlreich vorhandenen Schmetterlinge.
Benno Schmidt: auch bekannt unter dem Namen Brocken-Benno war deutscher Brocken-Rekordwanderer. Mehr als neutausend Mal bestieg er den Brocken. Im Dezember 2022 ist er verstorben. Heute erinnert ein nach ihm benannter Wanderweg von Schierke auf den Brocken (Kabelgraben) an ihn.
Unsere Unterkunft in Wernigerode das Hotel „Erbprinzen-Palais“(Geschichte zum 2.): „Da war die Stasi drin“, sagt sie trocken, als sie die Antwort auf ihre Frage an uns erhält, in welchem Hotel wir denn wohnen würden. Die Antwort verblüfft uns nicht. Wir haben bereits am Vorabend in unserem Zimmer einen ähnlichen „Verdacht“ gehabt. Umgangssprachlich wurde das Gebäude auch „Kreml“ genannt, weil über lange Zeit auch das sowjetische Kommando dort seinen Posten hatte.
Die Zeit fliegt und beide brechen wir nach dieser netten Plauderei in entgegengesetzte Richtungen auf. Die Sonne scheint und es ist daher sehr warm, auch wenn wir durch den kontinuierlichen Aufstieg stark an Höhe gewinnen. Immer wieder „blinzelt“ der Brocken aus der Wald-Karg-Lanschaft hervor.
Warte nur, gleich haben wir dich. Und so ist es. Kurz vor 16.00 Uhr laufen wir glücklich und zufrieden auf dem Gipfel ein. Stolz mischt sich in unsere Gefühle – aber auch Dankbarkeit. Wir geniessen die phänomenale Aussicht und sind uns bewusst, dass wir uns glücklich schätzen können. Im Jahres-Schnitt gibt‘s auf dem Brocken über 300 Nebeltage!
Geschichte zum 3.: Ab August 1961 wurde der Brocken, der im unmittelbaren Grenzgebiet der DDR zur BRD lag, zum militärischen Sperrgebiet erklärt und war somit für die Bevölkerung nicht mehr zugänglich. Der Gipfel wurde militärisch stark ausgebaut. Zuletzt war er von einer drei Meter hohen Sperrmauer aus Betonelementen umgeben. Der Brocken wurde für Überwachungs- und Spionagezwecke (Abhörstationen) genutzt. Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde der Brocken am 3. Dezember 1989 unter dem Druck einer Stern-Wanderung von 6‘000 Demonstranten wieder für die Allgemeinheit geöffnet. Die russischen Soldaten verliessen den Brocken am 30. März 1994.
Mit dem letzten Dampfzug des Tages geht‘s wieder nach Wernigerode. Die Fahrt dauert rund 1 1/2 Stunden und wir sind also „scho chli düre“ als wir in Wernigerode ankommen und dann in der „Teigfladenverarbeiterei Taube“ (Pizzeria Colombo) Abendessen gehen. Und dann diretissima zurück zum „Kreml“, Rucksäcke auspacken, Kleider zum Auslüften aufhängen und Beine hochlagern.